Überregionaler Lernaustausch in den Philippinen: Hoffnung und Inspiration für die Friedensarbeit

Es war ein Austausch der besonderen Art, den wir im Dezember in den Philippinen mit unseren Partner:innen organisieren konnten: Zwei Vertreterinnen der Gender-Arbeitsgruppe der kolumbianischen Wahrheitskommission tauschten ihre Erfahrungen an verschiedenen Anlässen mit philippinischen Friedensaktivist:innen aus. Aus diesen Begegnungen entstanden viele Momente des Erkennens und Verstehens. Unsere Programmverantwortlichen Andrea Filippi und Karin Widmer waren dabei.

Was war der Zweck der Reise?

Andrea: Die Grundidee der Reise war, voneinander zu lernen, sich zu bewährten Methoden auszutauschen und Anregungen und Inspiration für die eigene Projektarbeit zu gewinnen. An einem Face-to-Face-Treffen 2019 in Bern entstand die Idee, dass ein Besuch einer Vertreterin der Gender-Arbeitsgruppe der kolumbianischen Wahrheitskommission in den Philippinen wertvoll wäre für die am Bangsamoro Friedensprozess beteiligten Aktivist:innen. Die Covid-Pandemie kam dazwischen. Im März 2022 veröffentlichten wir die Publikation «From Transition to Transformation», in der unsere Partner:innen in Kolumbien, Nepal und den Philippinen ihre Erkenntnisse aus den Friedensprozessen teilen. An der Onlineveranstaltung zur Lancierung der Publikation, äusserten sie erneut den Wunsch nach einem Lernaustausch.

Welche gemeinsamen Ziele habt ihr verfolgt?

Karin: Die konkreten Ziele hatten wir gemeinsam mit unserer Projektpartnerin in den Philippinen, dem Gaston Z. Ortigas Peace Institute (GZOPI), formuliert. Mit dem Erfahrungsaustausch wollten wir Frauen, die in den Philippinen und in Kolumbien zu Transitional Justice [TJ, Übergangsjustiz] arbeiten, motivieren und inspirieren. Zudem wollten wir dazu beitragen, dass die Empfehlungen aus dem Bericht der philippinischen Transitional Justice and Reconciliation Commission TJRC mehr Aufmerksamkeit erhalten und endlich umgesetzt werden. Schliesslich wollen wir die Erfahrungen aus dieser Reise andere Frauen, die zu TJ arbeiten, zur Verfügung stellen.

Wer waren die Hauptpersonen in dieser Reise?

Karin: Nebst Andrea und mir waren das: Karen Tañada, die GZOPI-Direktorin, die mit ihrem Team und Netzwerk von Frauen- und Friedensorganisationen die Aktivitäten koordiniert hat. Remedios Uriana ist eine Wayuu Indigene aus dem Norden von Kolumbien, und Juliana Rodríguez López stammt aus dem Department Cauca. Remedios und Juliana waren beide Mitglieder der Gender-Arbeitsgruppe der kolumbianischen Wahrheitskommission, deren Mandat im Sommer 2022 zu Ende ging. Zudem sind sie aktiv in der feministischen Friedensbewegung in Kolumbien.

Ihr habt an verschiedenen Anlässen und Treffen teilgenommen. Worum ging es dabei?

Karin: Wir haben in der Hauptstadtregion sowie auf Mindanao im Süden der Philippinen verschiedene Anlässe, Treffen und Besuche gestaltet: zwei öffentliche Konferenzen, einen FrauenFriedensTisch, ein geschlossenes Treffen mit Witwen, die vom sogenannten «Drogenkrieg» betroffen sind, einen Besuch in der Schweizer Botschaft, sowie unter anderem Besuche im Kriegsrechts-Museum und bei der Gedenkwand für die Opfer der Marcos-Diktatur.

Andrea: Es ging darum, voneinander zu lernen, sich über gute und weniger gute Erfahrungen auszutauschen, Einblicke in die Arbeit anderer und so Inspiration für die eigene Projektarbeit zu erlangen. Fachpersonen und direkt Betroffene aus den Philippinen haben uns den lokalen Kontext näher gebracht durch Präsentationen und Zeug:innen-Berichte. Wir konnten immer wieder ihre Emotionen spüren und direkt miterleben, zum Beispiel an Erinnerungsstätten und während kulturellen Aktivitäten. Remedios und Juliana haben uns an ihren intensiven Erfahrungen als Mitglieder der Gender-Arbeitsgruppe teilnehmen lassen. Mit Bildern, Videos und persönlichen Erzählungen haben sie die jahrelange Arbeit, die Herausforderungen und Erfolge der kolumbianischen Wahrheitskommission für uns erlebbar gemacht. In den Worten von Karen Tañada: «Es war eine grossartige Gelegenheit, mit bisherigen und neuen Partner:innen über TJ zu diskutieren und das Wissen darüber zu vertiefen, besonders in Bezug auf Wahrheitskommissionen.»

Welche Themen und Fragen tauchten an diesen Anlässen vermehrt auf?

Karin: Die Bedeutung des zivilgesellschafttlichen Engagements und der aktiven Beteiligung an Friedensprozessen über Differenzkategorien hinweg, kam nicht nur oft vor, sondern wurde mehrfach bestätigt. Der Austausch zwischen Schlüsselpersonen und direkt Betroffenen erscheint mir dabei zentral. Dies haben Remedios und Juliana betont, genauso wie die philippinischen Akteur:innen. Es kam besonders deutlich zum Ausdruck bei den geteilten Erfahrungen zu den sogenannten «listening processes». Das sind Fokusgruppendiskussionen und waren die Hauptmethode der TJRC in den Philippinen, um den direkt Betroffenen zuzuhören und ihre Zeug:innenberichte zu dokumentieren.

Andrea: Bezüglich «listening processes» und dem Festhalten der Zeug:innenberichte wurde immer wieder diskutiert, dass sowohl individuelles als auch kollektives Zuhören zentral sind. Wichtig ist auch, dass Menschen in ihrer eigenen Sprache Zeugnis ablegen können. Auch die gemeinsame Definition von und die Suche nach passenden lokalen und indigenen Terminologien für «transitional justice» wurde vermehrt hervorgehoben. Ein häufiges Thema war der intersektionale Fokus der kolumbianischen Gender-Arbeitsgruppe, die von Anfang an antirassistisch war, afrokolumbianische und indigene Perspektiven einschloss, und die Erfahrungen von Frauen und queeren Menschen ins Zentrum rückte, und dabei möglichst alle Altersgruppen mit einbezog. Die Bedeutung dieses intersektionalen Ansatzes wurde von verschiedenen Teilnehmer:innen am FriedensTisch in Davao City wiederholt bestätigt, und als eine Perspektive benannt, die die philippinischen Friedensaktivist:innen stärken möchten.

Karin: An solchen Anlässen wird häufig die mentale und physische Belastung bei Prozessen der Vergangenheitsbewältigung erwähnt. Die geschilderten Erlebnisse der direkt Betroffenen, der immense Einsatz derjenigen, die diese Erfahrungsberichte dokumentieren und die emotionalen Herausforderungen, die damit verbunden sind, hinterlassen Spuren und öffnen Wunden. Selbstfürsorge und kollektive Heilungsprozesse sind von zentraler Bedeutung. Der Austausch von Erinnerungen und individuellen Erfahrungen hilft bei der Verarbeitung. Mich fasziniert, wie diese Räume des Austauschs von den Menschen und von kulturellen Aspekten geprägt sind. Was die Menschen in diesem Raum miteinander verbindet und ihnen hilft, die Vergangenheit zu verarbeiten, ist der Akt des Teilens.

Sind euch Gemeinsamkeiten aufgefallen?

Karin: Ich bin immer wieder beeindruckt, wie bedeutungsvoll das Teilen von Erfahrungen über Kontexte und Grenzen hinweg sein kann. Sich gegenseitig zu inspirieren und Hoffnung weiterzugeben, jenseits von messbaren Indikatoren, sind für die Friedensarbeit so wichtig. Sich in der Hoffnung bestärken, dass unser individueller und kollektiver Einsatz für gerechten und inklusiven Frieden wichtig ist, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben, und dass wir im Kleinen wie im Grossen Wirkung erzielen können, ist für mich der Kern der Friedensarbeit weltweit. «Wie können wir Übergangsjustiz und Versöhnung zu einem Ziel machen, um das Schweigen zu brechen? Wir müssen daran glauben, dass ein steter Tropfen immer noch eine Flasche füllt», sagte eine Teilnehmerin am FriedensTisch.

Andrea: Eine geteilte Erfahrung ist, dass die Friedensarbeit und Vergangenheitsaufarbeitung einen sehr langen Atem brauchen. Der politische Wille, oder leider häufig der Mangel an politischem Willen zur Vergangenheitsaufarbeitung, ist in vielen Kontexten eine Realität. Daher ist, wie Karin schon betont hat, individuelle als auch kollektive (Selbst-)Fürsorge zentral, um überhaupt auf lange Zeit die Kraft für Friedensarbeit zu behalten. Feministische Netzwerke sind für das kollektive Organisieren zentral.

Welche Momente bleiben euch am deutlichsten in Erinnerung?

Karin: Meine Erinnerungen an unsere Projektreise sind sehr lebendig und farbig. Ich erinnere mich besonders deutlich an den FrauenFriedensTisch, da wir dort im geschützten Rahmen unsere Erlebnisse und Emotionen teilen konnten. Die Teilnehmer:innen sagten, sie glauben weiterhin an den Frieden und würden sich dafür einsetzen, damit ihre Töchter nicht das Gleiche erleben müssen wie sie: «Ich kann vergeben, aber ich kann nicht vergessen», sagte eine.

Die Bedeutung der «sisterhood» über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg hat sich mir eingeprägt. Ich sehe noch die innige und tränenreiche Umarmung zwischen Yasmin und Bencita, einer muslimischen und einer indigenen Friedensaktivistin, die sich beide seit Jahren in ihrer Gemeinde und auf Regierungsebene, als intern Vertriebene und als direkt Betroffene engagieren. Ich erinnere mich an Remedios’ und Julianas Selbst-Reflexionen und Erkenntnisse aufgrund der Reise, die ein paar Monate nach Ende ihres Einsatzes für die kolumbianische Wahrheitskommission stattfand: «Dieser Austausch hat mir geholfen, zurückzuschauen und Neues zu realisieren», sagte Remedios.

Andrea: Die Reise wird mich noch lange begleiten und nähren. Ich erinnere mich an vieles, insbesondere an diesen FriedensTisch. Er hat für mich auf einer emotionalen Ebene fühlbar gemacht, wie wichtig sichere Räume sind, um sich auszutauschen und gegenseitig zu stärken. Besonders nachhaltig prägen mich die persönlichen Begegnungen und Verbindungen mit so vielen verschiedenen Menschen. Eine kurze Unterhaltung mit Yasmin Busran Lao, ehemaliges Mitglied des Friedensverhandlungsgremiums der philippinischen Regierung für Gespräche mit der Moro Islamic Liberation Front, bleibt mir deutlich in Erinnerung. Wir haben uns zur grossen Bedeutung von transnationalen feministischen Netzwerken unterhalten, und darüber, wie wir uns gegenseitig unterstützen und solidarisch mit den Kämpfen anderer sein können. Das nehme ich mit für meine weitere Arbeit. Immer wieder ist mir auch aufgefallen, wie ähnlich unsere Herausforderungen sind, trotz kontextueller Differenzen und Unterschiede in deren Ausmass. Wir alle sind konfrontiert mit einem Backlash und mit Widerstand gegen inklusive Feminismen und Prozesse.

Wie geht es nun weiter mit unserer Arbeit in den Philippinen?

Karin: Das aktuelle Projekt «FrauenFriedens Tische in Nepal, Kolumbien und den Philippinen: Stärkung der effektiven Beteiligung von Frauen an der Konflikttransformation» dauert noch bis Ende 2023. Wir unterstützen das GZOPI bei seinen Anstrengungen, dass die Empfehlungen zur Übergangsjustiz in den Philippinen umgesetzt werden. Am FrauenFriedensTisch entwickelten die philippinischen Teilnehmer:innen konkrete Aktionen und Kampagnen-Strategien, um die TJ-Agenda in den Philippinen weiter voranzutreiben. Dabei wurden sie von den Erfahrungen aus Kolumbien inspiriert und haben diese in ihre Vorhaben integriert.

Andrea: Eine Haupterkenntnis ist für mich, dass das gemeinsame Lernen, sich austauschen, einander inspirieren, um so wieder Kraft zu schöpfen und neue Ideen zu generieren, essenziell ist. In der Auswertung hat sich erneut bestätigt, dass wir das generierte Wissen systematisieren müssen, um es mit weiteren Kreisen teilen zu können – in welcher Form können wir Wissen festhalten und aufbereiten, damit es bei den Zielgruppen ankommt? All das möchten wir bei unserer weiteren Arbeit im Auge behalten.

Was haben die philippinischen Partner:innen besonders hervorgehoben?

Karin: Die Umsetzung des inklusiven und intersektionalen Ansatzes der kolumbianischen Gender-Arbeitsgruppe und ihre Erkenntnis, dass es im konservativeren Kontext in Bangsamoro relevant ist, die Übergansjustiz und Versöhnung gendergerecht zu gestalten. Dazu die Einsicht von Karen in ihrem Bericht zur Reise: «Es war wichtig, dieses Bewusstsein zu stärken, da im Kontext von Bangsamoro besonders die LGBTIQ+ Perspektive ein bisschen heikel ist. Die Akzeptanz für dieses Thema ist unter den Aktivist:innen gross. Es ist ein Thema, dem wir mehr Beachtung schenken sollten.» Die philippinischen Teilnehmer:innen nannten auch die Förderung des intergenerationellen Dialogs: «Die heutige Generation weiss nicht, was gestern passiert ist.»

Was bleibt den philippinischen Partner:innen vom Austausch mit den zwei Frauen aus Kolumbien?

Karin: Die konkreten Erfahrungen von Remedios und Juliana sind für die philippinischen Akteur:innen primär eine Motivation: «Ihre intensiven und tiefgründigen Erfahrungen haben die Herausforderungen und die Bedeutung von Übergangsjustiz und besonders die Rolle der Frauen in diesen Prozessen klarer und bedeutungsvoller gemacht», so Karen in ihrem Bericht.

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