Fokus: Kolumbien: Keine Wahrheitsfindung ohne die Stimmen von Frauen

Die kolumbianische Wahrheitskommission leistete vorbildliche Arbeit: Frauen, marginalisierte Gruppen und die Diaspora wurden aktiv in denProzess der Wahrheitsfindung und Aufarbeitung der Geschichte desbewaffneten Konflikts miteinbezogen. Das Mandat der Kommission ist beendet, die Friedensarbeit geht weiter.

Es gibt Zahlen, die fassungslos machen: 8 Millionen Vertriebene; mindestens 450’000 Menschen getötet; 120’000 gewaltsam Verschwundene; 30’000 dokumentierte Fälle von sexualisierter Gewalt. Es gibt auch Zahlen, die beeindrucken: 8000 Seiten, auf denen schwerste Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und die mit Dutzenden von zukunftsweisenden Empfehlungen gefüllt sind – und mit den Stimmen von 30’000 Menschen, die ihre Geschichten des Leids und des Widerstands erzählen. Darunter auch die Stimmen von Frauen.

Das Ende 2016 unterzeichnete Friedensabkommen zwischen den FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia - Ejército del Pueblo) und der kolumbianischen Regierung beendete offiziell einen der weltweit längsten bewaffneten Konflikte nach mehr als 50 Jahren. Die Wahrheitskommission wurde als eine der drei Institutionen geschaffen, die das «Umfassende System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung in Kolumbien» bilden. Die Kommission nahm 2018 ihre Arbeit auf, mit dem Ziel, die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und Erklärungen zu finden, warum der Konflikt über Jahrzehnte andauerte. Der im Juni eingereichte Schlussbericht enthält Empfehlungen, wie die Gewalt beendet werden könnte. Diese hält unter anderem aufgrund der militarisierten Drogenpolitik und der weiterhin aktiven paramilitärischen Gruppierungen an.

Musterbeispiel für Inklusion

Bereits das kolumbianische Friedensabkommen war ein Musterbeispiel für die Inklusion von marginalisierten Bevölkerungsgruppen und von Frauen. Dass die Erfahrungen von Frauen und LGBTIQ+- Menschen in den Friedensverhandlungen einbezogen wurden, ist auch auf die aktiven Frauen- und die LGBTIQ+-Bewegungen zurückzuführen. Dank ihnen enthält der Schlussbericht der Kommission den 644-seitigen Band «Mein Körper ist die Wahrheit», der die Erfahrungen von 10’864 Frauen würdigt, die mehrfach vom Konflikt betroffen sind. Sie erlebten zu Tausenden sexualisierte Gewalt von beiden Konfliktparteien und den Sicherheitskräften. Der Band schildert ausserdem die enorme Schuld, die Kolumbien gegenüber LGBTIQ+-Menschen trägt, die als «Kranke» oder «Kriminelle» gebrandmarkt wurden.

Als Feministin in der Kommission war es eine grosse Chance, der Gesellschaft zu erklären, wie Patriarchat, Rassismus und Diskriminierung die Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ+-Personen begünstigten, rechtfertigten und legitimierten

— Salomé Gómez Corrales, Gender-Koordinatorin der kolumbianischen Wahrheitskommission

«Als Feministin in der Kommission war es eine grosse Chance, der Gesellschaft zu erklären, wie Patriarchat, Rassismus und Diskriminierung die Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ+-Personen begünstigten, rechtfertigten und legitimierten», sagt uns Salomé Gómez Corrales, Gender-Koordinatorin der kolumbianischen Wahrheitskommission. Es war ihr Team, das die Kommission überzeugte, den Frauen und den LGBTIQ+-Menschen ein eigenes Kapitel im Schlussbericht zu widmen.

«Ohne die Stimmen der Frauen wäre es nicht möglich gewesen, die Geschehnisse im kolumbianischen Konflikt zu klären», sagt sie. Der Staat habe ihre Grundrechte verletzt und sie somit der Gewalt ausgesetzt. Die 10’864 Frauen erzählten ihre Geschichten, «um Linderung zu finden und von der Regierung und der Gesellschaft zu verlangen, dass sich diese Gewalt nicht wiederholt». Sie zählt die landesweite Veröffentlichung des Kapitels zu Frauen und LGBTIQ+- Menschen zu einem Moment «der grössten Freude und des grössten Seelenfriedens» in den vergangenen fünf Jahren.

Frauen in der Aufarbeitung der Geschichte

Die testimonios, die Aussagen der Zeuginnen und Zeugen des Konflikts, spielen eine zentrale Rolle für die Wahrheitsfindung und die Versöhnung, erklärt Carla Ruta von unserer Kooperationspartnerin Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien. Der Konflikt hat die Gesellschaft polarisiert. «Jeder sieht nur die Opfer und Leiden des eigenen Lagers. Dieser Bericht lässt alle zu Wort kommen.» Auch die testimonios von 2000 Mitgliedern der Diaspora wurden aufgenommen, die sonst meist von Wahrheitskommissionen ignoriert würde.

Seit 2016 haben hunderte konfliktbetroffene Frauen an FrauenFriedensTischen (FFTs) teilgenommen, die wir gemeinsam mit unseren Projektpartnerinnen Comunitar und Ruta Pacífica de las Mujeres durchgeführt haben. An den FFTs arbeiteten sie ihre Erfahrungen von Gewalt und Widerstand auf, erhielten psychosoziale Betreuung, formulierten gemeinsam Strategien und stellten Forderungen für eine neue Gesellschaftsordnung, verbunden durch ihr Streben nach Frieden und Wahrheit, sagt Zully Meneses Hernández, Direktorin von Comunitar. Mitarbeiterinnen der Wahrheitskommission zeichneten bei den FFTs viele der testimonios der Frauen auf. So wurden sie Teil des Schlussberichts und der kolumbianischen Geschichte. Dass die Erfahrungen der Frauen im Bericht sichtbar gemacht werden, würdige ihren Beitrag an die Friedensförderung, so Zully.

Die neu gewählte links-progressive Regierung in Kolumbien hat versprochen, die Empfehlungen der Kommission umzusetzen und wird mit Vertreterinnen der Frauenbewegung Konsultationen führen, um einen nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der UNO-Sicherheitsratsresolution 1325 zu «Frauen, Frieden und Sicherheit» zu erstellen. Der bewaffnete Konflikt mag offiziell beendet sein, doch Frauen sind weiterhin Gewalt und einem militärisch geprägten Verständnis von Sicherheit ausgesetzt. Die Friedensarbeit geht weiter.

Der Schlussbericht der Wahrheitskommission

«Wir bringen eine Botschaft der Hoffnung und der Zukunft für unser zerrüttetes und gebrochenes Land. Unbequeme Wahrheiten, die unsere Würde in Frage stellen, eine Botschaft für uns alle als menschliche Wesen … Eine Botschaft der Wahrheit, um die unerträgliche Tragödie eines Konflikts zu beenden …»

So beginnt der Abschlussbericht, den die Kommission am 28. Juni 2022 präsentierte. Der neu gewählte Präsident Gustavo Petro sagte damals, dass der «permanente Kreislauf der Gewalt» durchtrennt werden muss. Der Bericht der Wahrheitskommission bilde die Basis für ein friedliches Zusammenleben in der Zukunft.

Hier einige der wichtigsten Empfehlungen:

  • Die Regierung soll die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens vorantreiben, inklusive der Verhandlungen mit der Ejército de Liberación Nacional ELN. Die Sicherheit ehemaliger Kämpfer:innen soll gewährleistet werden.

  • Die Schaffung einer neuen Vision von Sicherheit zur Förderung von Frieden als öffentliches Gut, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.

  • Ein neues Ministerium für Frieden und Versöhnung soll für die Umsetzung des Friedensprozesses verantwortlich sein und allgemein zur Versöhnung beitragen.

Auf 15 Seiten führt der Bericht zu Frauen und LGBTIQ+- Menschen «Mi cuerpo es la verdad» konkrete Empfehlungen auf:

  • staatliche Kapazitäten stärken, um Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter zu erzielen.

  • die Rolle der Frauen stärken und eine angemessene Wiedergutmachung für weibliche Opfer des bewaffneten Konflikts gewährleisten.

  • kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen anstreben, um Gewalt gegen Frauen zu beenden, darunter die Aufforderung an die Regierung, Abkommen für die Gleichstellung der Frauen und die Abschaffung des Patriarchats zu unterzeichnen, «um Frieden zu schaffen.»

Mehr Informationen auf der Website der Kommission:
www.comisiondelaverdad.co