Drei Länder, vier Frauen, eine grenzübergreifende Solidarität

FriedensFrauen Weltweite brachte Friedensaktivistinnen aus Kolumbien, Nepal und den Philippinen zusammen, damit sie ihre Erfahrungen aus den bewaffneten Konflikten und den darauffolgenden Friedensbemühungen in ihren Ländern teilen und gegenseitig von ihrer Expertise profitieren können. So unterschiedlich die politischen Kontexte sind, sie fanden viele Gemeinsamkeiten. So auch eine grenzübergreifende Solidarität, die sie in ihrer langwierigen Friedensarbeit bekräftigte.

Sie zieht den wattierten Mantel etwas enger um ihre Schultern, als ob ihr mehr als die Kälte dieses Wintertages zusetzt. «Friedensarbeit ist ein langer und mühsamer Prozess, aber welche Alternative hast du? Woher holst du die Motivation und die Kraft, wenn du morgens lieber im Bett bleiben möchtest? An Treffen wie diesen siehst du, dass du nicht allein bist. Die Solidarität ist da.»

Yasmin Busran-Lao ist Projektberaterin beim Gaston Z. Ortigas Peace Institute in den Philippinen und nahm als eine von zwei Frauen an den Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Islamischen Befreiungsfront der Moros (MILF) teil. Yasmin hat eben drei Tage intensive Diskussionen und Gespräche mit Friedensaktivistinnen aus Kolumbien und Nepal hinter sich. FriedensFrauen Weltweit brachte die vier Frauen zusammen, weil sie alle aus Ländern kommen, die lange bewaffnete Konflikte durchlebt haben und sich nun in verschiedenen Stadien eines Friedensprozesses befinden. Die Frauen arbeiten alle für und mit Partnerorganisationen, mit denen FriedensFrauen Weltweit bereits mehrere FrauenFriedenstische organisiert hat.  

Das Arbeitstreffen in Bern gab den Frauen die Gelegenheit, von den Erfahrungen der anderen zu lernen und ihre Expertise zu teilen. Sie nahmen aber mehr mit nach Hause als ein Koffer an neuen Erkenntnissen: Die Kraft weiterzumachen.  «Die anderen Frauen kennen deinen Kontext nicht. Du denkst, vielleicht ist es ihnen egal, aber dann erlebst du die echte, grenzübergreifende Sisterhood («Schwesternschaft»). Das bekräftigt deinen Glauben an deine Arbeit,» sagt Yasmin. 

Salomé Gomez Corrales, Gender-Koordinatorin der kolumbianischen Wahrheitskommission, Carolina Cano Pajoy, Projektkoordinatorin bei Comunitar im Süden Kolumbiens, Susan Risal, Direktorin der NGO Nagarik Aawaz in Nepal: Auch sie unterstreichen wie wichtig der Erfahrungsaustausch über Grenzen hinweg für sie und ihre Arbeit ist. «Es war inspirierend, sich mit Frauen auszutauschen, die seit Jahren für den Frieden kämpfen. Mein Herz ist voller Hoffnung und Energie,» sagte Carolina am Ende des Treffens.

So unterschiedlich die Geschichte und die politischen Kontexte der drei Ländern sind,  bei drei Kernthemen fanden die Friedensaktivistinnen viele Gemeinsamkeiten: die Teilnahme von Frauen in den Friedensprozessen und am Wiederaufbau, die Bedeutung der FrauenFriedensTische in diesem Prozess, und die sexualisierte Gewalt an Frauen, die in allen Ländern, auch nach den bewaffneten Konflikten, weit verbreitet ist.

Wie bedeutungsvoll ist die Teilnahme von Frauen im Friedensprozess in ihren Ländern?

Die Antwort auf diese Frage fällt je nach Land unterschiedlich aus. In Nepal, wo der 10-jährige bewaffnete Konflikt zwischen der Regierung und der maoistischen Rebellengruppe 2006 zu Ende ging, betrug der Anteil Frauen in der Verfassungsgebenden Versammlung 5%. Nepalesische Frauen, mobilisiert durch Organisationen wie Nagarik Aawaz, hätten 45 Tage lang protestiert, sagt Susan. Der Druck der Proteste führte zur Verankerung von Frauenanteilen in der Regierung: 33% auf nationaler und 40% auf lokaler Ebene. Das sei ein Fortschritt, sagt Susan, doch die meisten Frauen wurden lokal als Vize-Bürgermeisterinnen gewählt und gelten als «chupa», still und ohne Macht. Die politische Partizipation von Frauen hätte sich in Nepal zwar verändert, aber in den Lokalregierungen sei es keine Priorität «in Frauen zu investieren». 

Das Gesetz von 2014 zur Schaffung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission sowie einer Kommission zur Untersuchung von Verschleppungen («enforced disappearance») wurde international und von der nepalesischen Zivilgesellschaft wegen mehrerer Mängel scharf kritisiert. Alle Mitglieder der Wahrheitskommission und der Kommission, die Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten soll, werden von der Regierung ernannt. Der politische Wille, die Vergangenheit gründlich aufzuarbeiten, fehle genauso wie der Wille, Frauen an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, sagt Susan.

In Kolumbien sind Frauen in der nationalen Wahrheitskommission vertreten: Das Vorstandsmitglied von FriedensFrauen Weltweit, die Feministin und Professorin Alejandra Miller Restrepo, ist eine von fünf Frauen in der z.Zt. 10-köpfigen Kommission. Kolumbianerinnen haben hart für ihre Teilhabe gekämpft. Nach 50 Jahren bewaffnetem Konflikt schloss die Regierung mit der Rebellengruppe FARC im November 2016 ein Friedensabkommen ab. Aber an den ersten Gesprächen, die vor der Unterzeichnung in Kuba stattfanden, nahmen nur Männer teil. 

«Frauen hatten keine Stimme,» sagt Carolina von Comunitar, die das nationale Friedensnetzwerk Ruta Pacifica de las Mujeres in der Region Cauca koordiniert. Die feministische und pazifistische Bewegung mobilisierte zusammen mit anderen Organisationen Frauen und machte auf die Regierung Druck. «Die Frauenbewegung hat darauf bestanden, dass Frauen an den Friedensverhandlungen teilhaben. Sie müssen am Tisch sitzen.» 

Sie hatten Erfolg: Frauen sind nicht nur in der Wahrheitskommission sondern auch in drei weiteren Kommission gleichwertig vertreten. Die Gender Arbeitsgruppe, die Salomé leitet, ist damit beauftragt, sicherzustellen, dass Frauen in allen Aspekten der Arbeit der Wahrheitskommission miteingeschlossen sind. «Frauen sind nicht nur Opfer des Konflikts, sondern auch aktiv am Wiederaufbau des Landes beteiligt,» sagt Salomé.

Auch in den Philippinen machten die Frauen mobil, damit der Frieden nach 50 Jahren Krieg zwischen der Regierung und der MILF, zustande gekommen ist – und hält. Der Konflikt im muslimisch-geprägten Mindanao war einer der ältesten bewaffneten Unabhängigkeitskämpfe der Welt. Ein Hauptgrund für den Konflikt war die Massenmigration christlicher Siedler in die angestammten Territorien der muslimischen und nicht-muslimischen Indigenen.

Frauen seien in allen Aspekten des Friedensprozesses vertreten gewesen und hätten auf allen Ebenen Druck gemacht, erinnert sich Yasmin, deren Familie direkt vom Konflikt betroffen war. «Als der Prozess im Jahr 2000 ins Stocken geriet, waren es die Frauen, die sich für einen Waffenstillstand einsetzten.»

FriedensFrau Miriam Coronel Ferrer war Chefunterhändlerin und die weltweit erste Frau, die ein grösseres Friedensabkommen mitunterzeichnete. Es war auch sie, die die Männer am Tisch überzeugte, zwei weitere Frauen an den Verhandlungen zu akzeptieren, darunter auch Yasmin. «Frauen haben erkannt, dass sie am politischen Entscheidungsprozess beteiligt sein müssen. Sie wollten keine symbolische Teilnahme. Sie wollten den Frieden mitgestalten,» sagt Yasmin.  

Anfang 2019 stimmte die Mehrheit der Bevölkerung in fünf Provinzen für die Annahme der neugeschaffenen «Autonomen Region Bangsamoro in muslimisch Mindanao». Die interimistische Regierung hat Dank dem Engagement von Aktivistinnen verfügt, dass jedes Amt 5% seines Budgets zur Förderung von Frauen einsetzen muss. Es habe etwas Überzeugungskraft gebraucht, sagt Yasmin, aber die MILF habe erkannt, dass Frauen an der Gestaltung des Friedens und dem Aufbau der neuen Regierung teilhaben müssen.

Welche Rolle spielen die FrauenFriedenstische?

In den Philippinen hätten die FrauenFriedenstische, ein Kernprojekt von FriedensFrauen Weltweit, zum strategisch richtigen Zeitpunkt stattgefunden, sagt Yasmin. Einerseits gaben sie den Teilnehmenden die Gelegenheit, den bewaffneten Konflikt aus verschiedenen Perspektiven neu zu beleuchten, auch aus Sicht von betroffenen Frauen. Andererseits ging es um konkrete Forderungen. «Heute stehen neue Gesetze im Fokus unseres Kampfs. An den Friedenstischen konnten wir Forderung formulieren, um sicherzustellen, dass die Regierung ihre Versprechen gegenüber den Frauen einhält.»

Insgesamt nahmen 2019 300 Personen an vier Friedenstischen teil, darunter Parlamentarier*innen und Fachpersonen im Bereich Übergangsjustiz («transitional justice») –  vor allem aber Frauen aus der konfliktbetroffenen Region, darunter auch christliche Siedlerinnen und Indigene. Ein Hauptziel war, die Kompetenzen von Friedensaktivistinnen aufzubauen, damit sie sich mit den Themen der Übergangsjustiz auseinandersetzen und sich in dieser Phase engagieren können. «Unter den Teilnehmenden wuchs das Bewusstsein, dass der Bangsamoro-Frieden von nationaler Bedeutung ist,» sagt Yasmin. «An den Friedenstischen baute sich eine Solidarität unter allen Frauen auf.»

Auch in Kolumbien ging es darum, Frauen an den insgesamt sieben Friedenstischen, die 2018 und 2019 stattgefunden haben, darüber aufzuklären, worum es in dieser Zeit der Übergangsjustiz geht, was ihre Rechte sind, und weshalb es wichtig ist, dass sich Frauen in der Nachkriegsaufarbeitung miteinbringen. Die Wahrheitskommission ist ein wichtiger Partner im Friedenstisch-Projekt in Kolumbien. Lokale Vertreterinnen der Kommission nahmen an allen Friedenstischen teil, um die Arbeit und die Ziele der Kommission zu erklären, und um den Frauen die Gelegenheit zu geben, ihre Erinnerungen und Erfahrungen anonym und vertraulich aufzeichnen zu lassen. 

Die Wahrheitskommission hat sich zum Ziel gesetzt, die Aussagen von 16'000 vom Konflikt betroffenen Personen aufzuzeichnen, um ein möglichst vollständiges Bild des Bürgerkriegs zu schaffen. «Die Friedenstische sind der Ort, an dem die ganze Wahrheit ans Licht kommt. Ohne Frauen ist die Wahrheit nicht die volle Wahrheit,» sagt Carolina.

In Nepal nahmen vom Krieg betroffene Frauen, darunter ehemalige maoistische Kämpferinnen (der Frauenanteil in den Maoistentruppen betrug 40%) an den 19 Friedenstischen teil, die die Partnerorganisation Nagarik Aawaz zwischen 2015 und 2019 in allen Landesteilen und in der Hauptstadt Katmandu durchgeführt hat. 

«Die Frauen wurden nie gefragt, was sie erlebt hatten, wie sie sich fühlen und was sie wollen,» sagt Susan. «Die FrauenFriedenstische waren ihre einzige Gelegenheit, in einem sicheren Rahmen ihre Geschichten – auch ihre Erfahrungen mit Gewalt – zu erzählen. Denn die Regierung bietet ihnen diese Möglichkeit nicht.» 

Auch die «chupa», die «stillen», Vize-Bürgermeisterinnnen nahmen teil und hörten zu. Viele von ihnen wurden sich zum ersten Mal bewusst, was Frauen während des Bürgerkriegs widerfahren ist und haben versprochen, sie zu unterstützen. «Es hilft den Frauen, dass sie über das Erfahrene sprechen können,» sagt Susan. «Es verleiht ihnen Würde und stärkt ihr Selbstwertgefühl.» 

Unter ihren Forderungen war auch die für eine öffentliche Entschuldigung seitens der Regierung und der Armee. «Sie sagten, sie trügen zwei Herzen in sich: Das eine sagt ihnen, dass es ihre Schuld war, dass sie vergewaltigt wurden, das andere sagt, dass es nicht ihr Fehler war. Wenn sie eine öffentliche Entschuldigung bekommen, dann können sie aufhören, sich selbst die Schuld zu geben.»

Gewalt an Frauen: ein Kontinuum?

«Wir kommen aus unterschiedlichen Gesellschaften und politischen Kontexten, aber eines haben wir gemeinsam: sexualisierte Gewalt an Frauen,» sagte Salomé am Arbeitstreffen. Die Gewalt begann vor dem Konflikt, setzte sich während des Konflikts fort und bestehe heute weiter. In Kolumbien, wie in anderen Ländern, die Bürgerkriege erlebt haben, wurden Frauen nicht nur von Armeeangehörigen, Rebellengruppen oder Paramilitärs vergewaltigt, sondern auch von ihren Männern. 

Carolina erklärte, dass die Frauen in Kolumbien erst nach Sensibilisierungskampagnen begannen, über ihre Erfahrungen mit Gewalt in allen Formen zu reden –  Entführungen, Folter, sexualisierte Gewalt. Mit dem Teilen ihrer Erfahrungen und dem Zuhören anderer Frauen, die Ähnliches erlebt hatten, wuchs das Bewusstsein, dass die Gewalt «nichts damit zu tun hatte, welche Kleider sie trugen, sondern damit, dass sie einen bewaffneten Konflikt durchlebt hatten und in einer patriarchalischen Gesellschaft leben.»  

Das sei auch in Nepal so. «Frauen sind in dieser patriarchalischen Gesellschaft täglich mit Gewalt konfrontiert, auch nach dem Konflikt,» sagt Susan. «Während des Konflikts wurden Frauenkörper als Schlachtfelder benutzt, um Angst zu verbreiten.» Auch unter den Maoist*innen seien viele ehemalige Kämpferinnen traumatisiert. 

In der Phase der Wahrheitsfindung, wurden Zehntausende von Aussagen aufgenommen, doch kaum jene von Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren hatten. Männern leiteten die Friedenskommissionen in den Distrikten. Räume wurden keine zur Verfügung gestellt, wo Frauen vertraulich über ihre Erfahrungen sprechen konnten.  Also hätten Frauen auch nicht ausgesagt, sagt Susan. 

Rund 9'000 Frauen waren nach dem Bürgerkrieg verwitwet. Sie wurden als Opfer klassifiziert und konnten so Wiedergutmachung verlangen. Frauen, die sexuell missbraucht wurden, wurden jedoch nicht als Opfer eingestuft. In Nepal sei heute bekannt, wie viele Menschen während des Konflikts getötet oder gefoltert wurden, wie viele als verschwunden gelten, nicht aber, wie viele Frauen in den 10 Jahren sexuell missbraucht oder vergewaltigt wurden.

In der philippinischen Gesellschaft sei die Würde der Frau eng mit der Würde ihrer Familie verknüpft, sagt Yasmin. «Frauen denken nicht an sich selbst, sondern an ihre Familien. Sie sind deshalb besorgt, welche Auswirkungen ihre Aussagen auf die Würde ihrer Familien haben könnte.» Im philippinischen Friedensprozess sei jedoch Dank der Arbeit von Aktivistinnen sexuelle Gewalt als Menschenrechtsverletzung anerkannt.

Die beinahe tägliche Auseinandersetzung mit den Erzählungen von Gewalt, Missbrauch und Trauer gehen nicht spurlos an den vier Frauen vorbei. Die Belastung ist gross und kann zu schlaflosen Nächten, Tränen und Momenten der Hoffnungslosigkeit führen. Yoga, Meditation, Tanzen und Singen helfen. Vor allem aber das Gefühl der Solidarität unter den Aktivistinnen gibt ihnen Kraft, wie auch das Bewusstsein, dass ihre Arbeit von Bedeutung ist – für die Frauen, denen sie über viele Jahre zuhören und für die sie sich einsetzen. Auch deshalb organisiert FriedensFrauen Weltweit überregionale Friedenstische und Arbeitstreffen: damit die Frauen sich gegenseitig Mut machen und den Rücken stärken können.  «Frauen haben diese enorme Kraft und Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen,» sagt Yasmin. «All diese Geschichten sind unsere Geschichten.»