18.05.2021, Interview mit Sima Samar, Menschenrechtsverteidigerin Afghanistan: «Männer führen Krieg, also denken sie, sie seien diejenigen, die Frieden machen»
Die Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung laufen seit September 2020, mit nur vier Frauen im 21-köpfigen Verhandlungsteam der Regierung und keiner unter den Taliban-Unterhändlern. Wir fragen Sima Samar, Gründerin der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission und der Gawharshad Universität in Kabul, wie die Chancen für einen dauerhaften Frieden stehen.
PWAG: Vier Journalistinnen, eine Ärztin, eine Polizistin und zwei Richterinnen gehören zu den Frauen, die ermordet oder auf die Attentate verübt wurden. Warum haben die Angriffe auf Frauen zugenommen?
Sima Samar: Es ist sehr bedauerlich, dass die Gewalt seit Beginn der innerafghanischen Gespräche in Doha zugenommen hat. Es sind noch viel mehr Frauen getötet worden als die Genannten. Ich glaube, dass die Taliban Gewalt anwenden, um mehr Macht zu erlangen und um die Menschen zu terrorisieren. Sie beschuldigen dann die Regierung, sie nicht zu schützen. Sie wollen die Regierung und das Volk beherrschen.
Frauen sind bei diesen Verhandlungen untervertreten. Warum?
Frauen sind immer untervertreten; das ist nicht neu. Die Taliban erkennen die Existenz von Frauen nicht an. Sie haben schon früher ihre Haltung gegenüber Frauenrechten offenbart. Aber dank der Fürsprache von Frauenorganisationen, Menschenrechtsverteidiger*innen und der Zivilgesellschaft hat die afghanische Regierung vier Frauen in das Verhandlungsteam aufgenommen. Das ist nicht genug, aber besser als keine. Wir leben in einer patriarchalischen Welt. Männer stellen die Waffen her und führen Krieg, also denken sie, dass sie auch diejenigen sind, die den Frieden machen.
Warum ist es von Bedeutung, dass die Regierung Frauen in ihr Verhandlungsteam aufgenommen hat?
Die afghanische Regierung hat Verpflichtungen gegenüber der Verfassung und gegenüber den Menschenrechtskonventionen. Aber wenn sie Konsultationstreffen zu irgendeinem Regierungsprogramm oder zum Frieden einberufen, beziehen sie sehr selten eine Frau mit ein.
Wie bedeutungsvoll ist die Teilnahme der vier Frauen, die an den Friedensverhandlungen beteiligt sind?
Sie sind engagierte und starke Frauen, aber sie sind nur vier afghanische Frauen neben 42 Männern am Tisch. Sie brauchen die Unterstützung nicht nur von Afghanen, sondern auch von der internationalen Gemeinschaft.
Laut Human Rights Watch klafft eine Lücke zwischen den offiziellen Erklärungen der Taliban zu Frauenrechten und den Positionen, die ihre Funktionäre in den von den Taliban kontrollierten Regionen einnehmen, wo Mädchen immer noch nicht zur Schule gehen dürfen. Wie ist es möglich, unter solchen Umständen einen dauerhaften Frieden auszuhandeln?
Wir können nicht glauben, was die Taliban sagen. Sie müssen mit ihren Taten zeigen, dass sie sich geändert haben. Wenn sie ernsthaft Frieden schliessen wollen, können sie nicht die Menschenrechte der Hälfte der Bevölkerung verletzen. Sie können nicht mit nur 50% der Bevölkerung Frieden schliessen.
Was haben die Friedensverhandlungen bisher erreicht?
Der Prozess ist sehr langsam. Bislang hat man sich nur auf den Ablauf der Friedensgespräche und die beiden Verhandlungsteams geeinigt. Es ist nicht viel erreicht worden – zumindest wissen wir nicht, was erreicht worden ist.
Welche Rolle spielen Frauenorganisationen und Aktivistinnen im Friedensprozess?
Frauengruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen setzen sich bei der Regierung und der internationalen Gemeinschaft für einen inklusiven Friedensprozess ein, auch dafür, dass die Stimmen der Frauen, die direkt vom Krieg betroffen waren, gehört werden. Gerechtigkeit ist jedoch für die Politik keine Priorität. Ein dauerhafter Frieden wird nur dann gewährleistet sein, wenn Frauen eine bedeutsame Rolle im Prozess einnehmen können und die Menschenrechte aller Menschen gewahrt werden. Andernfalls ist es kein nachhaltiger Frieden, sondern ein kurzfristiges politisches Abkommen und eine blosse Aufteilung von Macht. Deshalb braucht jeder Friedensprozess einen starken politischen Willen. Er muss die Menschen und die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen, um erfolgreich zu sein. Die jüngste Geschichte Afghanistans hat dies deutlich gemacht.
Wie kann ein Kurs wie der an der Gawharshad Universität zu «Gender und Frieden» zur Friedensförderung beitragen?
Diese Art von Kurs vermittelt den Jugendlichen ein tieferes Verständnis von Gender und Frieden und hilft ihnen, die Bedeutung von Gender im Frieden zu verstehen.
Welche Auswirkungen hat ein gescheiterter Frieden in Afghanistan auf Frauen anderswo?
Ich glaube, wenn die Frauen in Afghanistan nicht frei sind, wird sich das auf alle auswirken. Überall sehen wir wie fundamentalistische Gruppen ähnlich agieren, nicht nur unter den Muslimen, sondern auch in Ländern mit anderen Religionen. Frauenorganisationen auf der ganzen Welt sollten sich der Verluste bewusst sein, denen wir gegenüberstehen, und der Gefahr, dass sich die Vergangenheit wiederholt.
Die USA und die NATO werden ihre Truppen bis zum 11. September abziehen. Was denken Sie, welche Folgen das für den Friedensprozess haben wird?
Ich hatte gehofft, dass die USA ihren vollständigen Abzug aus Afghanistan an Bedingungen knüpfen würden. Ich bedaure, dass sie in ihrer Erklärung die Menschenrechte, Frauen und Mädchen nicht erwähnt haben. Ich verstehe die Forderung der US-Öffentlichkeit nach einem Truppenabzug, aber der hätte nach einem Friedensabkommen geschehen müssen. Das setzt die Taliban in die Position des Gewinners. Jetzt weigern sie sich, an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, bis der Truppenabzug abgeschlossen ist. Ich hoffe immer noch, dass die USA auf einen Friedensprozess hinwirken, der die Menschen und die Opfer in den Mittelpunkt stellt, und auf einen Überwachungsmechanismus, um die zur Rechenschaft zu ziehen, die gegen das Friedensabkommen verstossen. Ansonsten werden wir die gleiche Situation wie in den 1990er Jahren haben. Wir sollten die Lehren aus der Geschichte ziehen.
Was können wir in den kommenden Monaten erwarten?
Ich möchte nicht pessimistisch sein. Ich hoffe, dass die Menschen in Afghanistan eine gemeinsame Front für den Frieden bilden können. Die internationale Gemeinschaft lernt aus ihren Fehlern und steht an der Seite des afghanischen Volkes. Sie unterstützt einen Frieden mit Gerechtigkeit, in dem jede Bürgerin, jeder Bürger Afghanistans die Grundrechte geniesst und in Würde lebt. Afghanistan wird ein gutes Beispiel für Friedensförderung sein; das ist nicht unmöglich. Es ist schwierig, aber es kann mit einem vereinten Ansatz erreicht werden.
Das Interview wurde zwischen dem 9 und 20 April 2021 geführt.
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