Fokus Ukraine: «In unserer Gesellschaft ist Gewalt zur Norm geworden»

Frauen in Gemeinden nahe der Kontaktlinie sind mehrfach vom Krieg zwischen der Ukraine und den autonomen Volksrepubliken Donezk und Luhansk betroffen. An FrauenFriedensTischen können sie sich frei über ihre Erfahrungen und Friedensvisionen austauschen und sich vernetzen. Wir interviewen unser Vorstandsmitglied Margret Kiener Nellen und unsere Projektkoordinatorin Annemarie Sancar nach ihrer Projektreise vom September.

Seit Mai 2021 führen wir zusammen mit unserer ukrainischen Partnerorganisation KRF Public Alternative und lokalen Gruppen in der kriegsbetroffenen Region im Osten des Landes FrauenFriedensTische (Women’s Peace Tables, WPTs) durch. Dort entwickeln Frauen unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Weltanschauungen gemeinsam Strategien, wie sie ihren Alltag frei von Gewalt gestalten, ihre Lebensbedingungen langfristig verbessern und zum ersehnten Kriegsende beitragen können.

Warum wurde dieses Konfliktgebiet ausgewählt?

Der Krieg in der Ostukraine dauert seit 2014 an. Das Gebiet ist nach Afghanistan und Syrien das am drittstärksten verminte Gebiet der Welt. Über 13’000 Todesopfer und bis zu 9’000 zivile Verwundete wurden bisher verzeichnet. Gewalt und die Militarisierung öffentlicher Räume nehmen zu, weit über das eigentliche Kriegsgebiet hinaus. Als feministische Friedensorganisation sind wir gefordert, hier zum Friedensprozess beizutragen. Im Fokus sind die indirekten Folgen und Risiken, wie sie die Teilnehmerinnen an den WPTs benannten: häusliche Gewalt, Erwerbslosigkeit, mangelhafte soziale Absicherung, unterschiedliche Loyalitäten im Krieg. Dank Beziehungen zu lokalen Frauennetzwerken gelingt uns ein vertrauensbasierter Zugang zur lokalen Bevölkerung. Zudem können wir auf langjährige Beziehungen zu internationalen Akteuren zurückgreifen.

Im Zentrum unserer Arbeit steht die UNO-Sicherheitsratsresolution 1325 zu «Frauen, Frieden und Sicherheit». Sie erkennt die essenzielle Rolle der Frauen als Akteurinnen in der Friedensarbeit an. Wie wurde diese Agenda an den WPTs thematisiert?

Für die Einstiegsfragen an den WPTs war die Agenda «Frauen, Frieden und Sicherheit» richtungsweisend: Was bedeutet Sicherheit? Wo fühle ich mich als Frau unsicher? Es zeigte sich klar: Die Teilnahme von Frauen an der Friedensförderung ist nur möglich, wenn sie Zeit und Raum, wirtschaftliche und soziale Ressourcen sowie Anschluss an öffentliche Dienste und Netzwerke haben. Am Ende eines WPTs sagte eine Teilnehmerin: «Frieden bedeutet nicht nur, den Krieg zu beenden. Frieden ist in uns, als Gemeinschaft, als Individuen, die zusammenleben.»

Was sind die ersten Erkenntnisse aus den WPTs?

Der Krieg, grassierende Armut, geschlechtsspezifische Gewalt sowie Erwerbslosigkeit stehen im Zentrum aller Berichte. Soziale Unsicherheiten – wie etwa im Bereich Renten und Entschädigungen für verschollene, verwundete und getötete Menschen – sowie Misstrauen und Skepsis gegenüber den Behörden leisten der tatsächlichen und gefühlten Marginalisierung Vorschub. Intern Vertriebene, Waffen und eine oft patriarchalisch agierende Polizei sind weitere Bausteine in der Architektur der Angst. Wie eine Frau sagte: «Gewalt ist in unserer Gesellschaft zur Norm geworden.»

In Kyiw und der Ostukraine habt ihr an WPTs teilgenommen und euch mit Behörden, internationalen Organisationen und den Organisatorinnen von eigenen Initiativen getroffen. Worum ging es bei diesen Treffen?

Wir haben an den WPTs in Charkiw, Slowjansk und Sjewjerodonezk zugehört. Es war für uns äusserst wichtig, sowohl Frauen aus den Gemeinden, Aktivistinnen und Opfer des Kriegs anhören zu können wie auch Vertreter*innen von Polizei, Verwaltungsstellen und Frauenorganisationen. Von den Vertreterinnen von UN Women, der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte erhielten wir wertvolle Hintergrundinformationen.

Frauen wurden ermuntert, eigene Initiativen zu organisieren. Was ist der Zweck dieses Teils des Projekts?

Mit diesen von ihnen konzipierten Initiativen werden die Teilnehmerinnen motiviert, zusammen mit lokalen Expertinnen Aktionen durchzuführen, die ihre Situation rasch real verbessern. Themen der Initiativen sind u.a. die Vermittlung von wichtigen Rechtsgrundlagen, Informationsarbeit, beispielsweise zu Gewalt an Frauen, oder kunstbasierte Traumaverarbeitung.

Dieses Pilotprojekt wird weitergeführt. Was ist der nächste Schritt?

Als feministische Friedensorganisation wollen wir den Austausch und die Vernetzung unter den Frauen und Frauenorganisationen erleichtern, damit ein gemeinsames Friedensverständnis wachsen kann. Wir entwerfen nun mit unseren lokalen Partner*innen ein längerfristiges Programm, das die Alltagsbedingungen verbessern soll, damit friedliches Zusammenleben möglich wird. In den verschiedenen Netzwerken sollen kriegs- und friedensrelevante Diskussionen geführt, die Erkenntnisse verdichtet und daraus Projekte abgeleitet werden. Das Netzwerk von FriedensFrauen Weltweit ist ein Einstieg in entscheidende politische Friedensprozesse.

Erfahren Sie mehr über unser Ukraine-Programm unter Programme.