07.04.2022, Rede von Ruth-Gaby Vermot-Mangold: «Jetzt ist Krieg!» – in 40 Ländern

«Die Welt verbrennt unter unseren Füssen und wir sind bewegt, entsetzt, bleiben jedoch ruhig, korrekt und immer anständig», sagte unsere Präsidentin in ihrer Rede an die Mitglieder von FriedensFrauen Weltweit. Sie sagte auch: «Frieden schaffen wir damit nicht. Wie wäre es, wirklich laut, ungestüm und fordernd zu werden, den Männern die Waffen aus der Hand zu nehmen, den Kindern neue Vorbilder zu geben...» In ihrer Rede – die gleichzeitig ein Aufruf zum Handeln ist – fragt sie, «Warum sind wir Frauen nicht in der Lage, anzufangen und nicht aufzuhören, bis Friede ist?»

Bild von Ruth-Gaby Vermot-Mangold an der Mitgliederversammlung vom 01.04.2022

«Jetzt ist Krieg…», sagte meine Nachbarin

«Jetzt ist Krieg», sagte meine Nachbarin vor einem Monat, sie lehnte am Türrahmen und atmete tief. Sie meinte den Krieg in der Ukraine, den Krieg vor unserer Haustüre. «Krieg ist immer», antworte ich. Ja, Krieg ist immer: in Armenien, in Aserbaidschan, in Nagorny-Karabach, Georgien, in Tschetschenien, damals in Ex-Jugoslawien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, in Burundi, Afghanistan, Sudan, in Mexiko, Syrien, Nigeria, in der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Somalia, Mali, Irak, Südsudan, Burkina Faso, Mosambik, Kamerun, Libyen, den Philippinen, Palästina, in Indien, im Niger. Krieg ist überall in 40 Ländern. Und wir leben damit. Den Krieg vor der Haustüre, OK, der behelligt uns, da geht es ja auch ein bisschen um unsere Bedrohung und unsere eigene Versorgungssicherheit zum Beispiel mit Öl, Gas und Oligarchengeldern.

Micheline Calmy-Rey, unsere ehemalige Aussenministerin, die sich einmischte, wo Einmischung wichtig war, und die den Brief der 1000 nominierten FriedensFrauen an die Friedensnobelpreis-Jury in Oslo unterschrieb, sagte kürzlich in der SonntagsZeitung: «Wir können es nicht zulassen, dass ein paar starke Männer die Erde regieren» – «und zulassen, dass sie diese mutwillig und blindwütig zerstören», könnte man anfügen. Sie dealen, telefonieren, zeigen Muskeln die alten Männer, sie drohen und blasen sich auf, alle, auch die guten (wenn es denn solche gibt). Im Rücken haben sie immense Lager von Kriegsmaterial und vermeintliche Sicherheit. Sie überbieten sich gegenseitig in Standhaftigkeit und Coolness. Stoppen wir dieses absurde Schaulaufen um Einfluss und Herrschaft!

In Kriegen ist das Resultat immer dasselbe: kaputte Menschen, Zerstörung von Land, Natur, Dörfern und Städte, Generationen von «verpasster Kindheit», Misstrauen gegenüber jedem Wort. Frieden dagegen setzt die Grundbedürfnisse aller Menschen als Basis: Gesundheit, Bildung, Nahrung, Menschenrechte, Sicherheit…

Krieg ist auch Gewöhnung, man stumpft ab, macht weiter, stellt keine Fragen mehr, vor allem auch nicht an die Zukunft. Man vergisst das Elend, wenn es denn aus den Zeitungsspalten und Reportagen verschwindet. Der Schaden ist gross. Müsste nicht die Sensibilität und die Garantie für Frieden zur alltäglichen Botschaft werden, jeden Tag, wie die nicht benötigten Börsenkurse!

Die Kriegslogik kennen wir, sie ist einfach: Aufrüstung, Feindschaft, Rücksichtslosigkeit, den Gegner in die Knie zwingen. Den Sanktionen anderer Länder trotzen und die beschädigte eigene Bevölkerung als Kollateralschaden verstehen.

Was aber ist die Friedenslogik? Zuerst mal harte, unerbittliche, gefährliche Arbeit mit vielen Rückschlägen. Friedensarbeit ist oft Entmutigung und Hilflosigkeit, nicht mehr weiterwissen!

Während Waffen verlässlich töten, schaffen Worte und Vereinbarungen nicht zwingend Frieden. Vereinbarungen und Unterschriften sind volatil – man kann sie brechen, umdeuten, Friedensbrücken vernichten. Friedensprozesse sind langwierig und immer fragil. Luz Guzman, die als einzige Frauen von Seiten der Rebellen am Friedensprozess für Guatemala teilgenommen hat, erzählte, dass sie am ersten Tag des Friedensprozesses ihrem Todfeind, General X, die Hand schütteln musste. Erst jetzt waren sie Verhandlungspartner:innen. Ein Schreckmoment für Luz, den sie immer wieder erwähnte.

Für Friedensprozesse, Friedensarbeit und Friedenslogik steht FriedensFrauen Weltweit seit ihrer Gründung. Wir ermutigen Frauen in Friedensprozessen. Gemeinsam haben wir Instrumente, gute Ideen, ein wachsendes Netzwerk und Kriterien. Gemeinsam gehen wir Friedenswege mit engagierten Frauen. Wir kennen unsere Partnerinnen, vertrauen uns gegenseitig. Alles gut. Und doch sind wir langsam, kommen nicht vom Fleck – ich meine nicht nur die aktiven Organisationen, ich meine uns Frauen weltweit. 40 Kriegsorte, Millionen Frauen und doch fehlen sie, sie fehlen schmerzlich. Warum sind wir Frauen nicht in der Lage, anzufangen und nicht aufzuhören, bis Friede ist. Warum lassen wir uns durch diese Kriege versehren? Warum sind wir trotz Bildung, Selbstbewusstsein, Klugheit und Vernetzung so leise, so gesittet.

1919 versammelten sich in Zürich 50 Frauen aus all jenen Ländern, die am ersten Weltkrieg beteiligt waren. Sie wollten nie wieder Krieg und verlangten von den Herren, die in Versailles über Frieden entschieden, dass sie nicht nur Sieger und Besiegte zelebrierten, sondern die Zukunft aufbauten. Sie verlangten, dass die Stimmen aller Frauen der Kriegsländer gehört und ihre Forderungen erfüllt werden. Dabei waren Frauen wie Anita Augspurg aus Deutschland, Jane Addams aus den USA und viele andere. Für die Schweiz stand Clara Ragaz da und verlangte ganz einfach Menschlichkeit.

Ich bin ungeduldig, die Welt verbrennt unter unseren Füssen und wir sind bewegt, entsetzt, bleiben jedoch ruhig, korrekt und immer anständig. Frieden schaffen wir damit nicht. Einfach nicht. Wie wäre es, wirklich laut, ungestüm und fordernd zu werden, den Männern die Waffen aus der Hand zu nehmen, den Kindern neue Vorbilder zu geben…

Machen wir doch eine neue Frauenfriedenskonferenz, indem wir Frauen aus allen Kriegsländern von heute holen und ihnen das Wort überlassen, wie es eine der FriedensFrauen aus Nepal sagte: «We demand recognition, we demand our voices to be heard. We demand security. We demand a future for our children. We demand truth. And we demand justice. Now.»

Die Rede wurde anlässlich der Mitgliederversammlung am 1. April 2022 in Bern gegeben. Wenn Sie Mitglied werden möchten, erfahren Sie mehr dazu hier:

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