Entmilitarisierung, Ukraine und neues Magazin: Newsletter 1/2022
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine werden Rufe nach Aufrüstung und höheren Militärausgaben laut.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine werden Rufe nach Aufrüstung und höheren Militärausgaben laut. Als feministische Friedensorganisation setzen wir uns der Behauptung entgegen, dass mehr Waffen zu mehr Sicherheit führen. Wir fordern Entmilitarisierung und Abrüstung, weil nur so tatsächlicher Friede und umfassende Sicherheit entstehen können. Unsere Vorstandsfrau Margo OkazawaRey und unsere Programm- und Netzwerkverantwortliche Annemarie Sancar erklären, weshalb die Welt heute am Scheideweg steht.
Mehrere Parteien, auch Links-der-Mitte, und auch Frauen rufen nach Aufrüstung oder unterstützen Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie kann das sein? «Die patriarchalen Vorstellungen von Sicherheit sind in den gesellschaftlichen Strukturen der Länder des globalen Nordens fest verankert», sagt Annemarie Sancar. In Krisensituationen, wie dem Krieg in der Ukraine, würden deshalb viele Menschen «auf das zurückgreifen, das ihnen Sicherheit zu geben scheint, nämlich Waffen, Panzer, Kampfflugzeuge». Mit einem simplifizierten Schwarz-Weiss-Modell eines «Feindes» liesse sich jede militarisierte Entscheidung durchsetzen, von der Aufstockung des Militärbudgets bis zum Kauf von Kampfjets, mit dem Argument, die eigene Gemeinschaft zu schützen.
Schon bevor Russland den Krieg in der Ukraine ausgeweitet hat, erreichten die globalen Rüstungsausgaben einen neuen Höchstwert: 2021 investierten Staaten weltweit erstmals über zwei Billionen US-Dollar in ihre Streitkräfte. UN Women hat ausgerechnet, dass die globalen Militärausgaben in einem Jahr das reguläre Budget der Vereinten Nationen über 650 Jahre abdecken könnten.
Das sagt Margo Okazawa-Rey, Mitbegründerin des International Women’s Network Against Militarism, und nennt die USA, China oder Israel als Beispiele. Auch die Schweiz will nun nach fast 30 Jahren der leicht sinkenden Militärausgaben das Budget der Schweizer Armee jährlich um 2 Milliarden Franken erhöhen, auf 1% des Bruttoinlandsprodukts.
Militarisierung ist mehr als «nur» mehr Ausgaben für Streitkräfte. Aus feministischer Sicht ist Militarisierung eine Form von gewalttätiger Maskulinität, die ein patriarchales System bestärkt oder rekonstruiert und eng mit anderen Systemen der Unterdrückung verflochten ist, wie Rassismus und Kolonialisierung. Ausgaben für das Militär sind «Investitionen in eine auf Krieg ausgerichtete Sicherheit», erklärt Annemarie Sancar, und verfehlen das Ziel der umfassenden Sicherheit deutlich.
Die Folgen dieser Investitionen sind weitläufig und tiefgreifend, für die gesamte Gesellschaft und besonders für Frauen. Wenn ein Staat mehr Geld für Aufrüstung ausgibt, wird es andernorts genommen. Aufrüstung geschieht auf Kosten von Ausgaben für Bildung, Gesundheit oder Entwicklungszusammenarbeit. Werden Männer in den Krieg geschickt, bleiben Frauen oft lange in umkämpften Gebieten. Sie tragen die Konsequenzen von Krieg: Gewalt, Nahrungsmittel- und Trinkwasserknappheit, verschmutzte Umgebung, zusätzliche Fürsorgeverantwortung.
Sicherheit sollte nicht militärisch, sondern sozialpolitisch verstanden werden, sagt Annemarie Sancar. «Sicherheit bedeutet, dass die Wirtschaft die Menschen und nicht die Gewinnmaximierung einzelner Personen und Unternehmen ins Zentrum stellt.» Entmilitarisierung erfordert demzufolge eine Verschiebung von Investitionen weg von militärischer Aufrüstung hin zu einer Gesellschaft, «die im Mittelpunkt das Wohlergehen aller Menschen sieht». Zu diesem Ziel müssten Vorstellungen von Stärke neu gedacht und die Stimmen aller gehört werden.
Was gerne als banal abgetan wird, ist der einzige Weg zu mehr Frieden und mehr Sicherheit für alle. Gerade Feminist:innen seien gefordert. «Kriege und Militarismus sind patriarchale, maskuline Ideale und Praktiken. Frauen unterstützen diese auch. Doch Feminist:innen müssen diese Ideale herausfordern, ideologisch und in der Praxis», sagt Margo Okazawa-Rey. Sie sieht die Welt an einem Scheideweg. «An diesem Punkt der Menschheitsgeschichte und angesichts der aktuellen Situation stehen wir – die Menschen auf diesem Planeten – entweder auf der Seite der Kultur des Tötens oder der Kultur des Lebens.»
Was könnte die Antwort darauf sein? Margo Okazawa-Rey glaubt, eine globale Bewegung, die Militarismus mit gewaltfreien Aktionen konfrontiert, sei nun notwendig. Die Stimmen derjenigen, die einen gerechten Frieden fordern, in der Ukraine und in den vielen anderen von bewaffneten Konflikten betroffenen Ländern, müssen verstärkt werden. In unserer Arbeit in der Schweiz und im Ausland stehen diese Stimmen im Zentrum. Wir engagieren uns für Abrüstung und für Bedingungen, die ein sicheres Leben für alle ermöglichen, sagt Annemarie Sancar. Ob in der Veranstaltungsreihe zu Entmilitarisierung, in den «Feminist Peace Initiatives»-Projekten aus dem globalen Netzwerk oder an den FrauenFriedensTischen: gemeinsam mit unseren Projektpartnerinnen zeigen wir auf, wie vielfältig friedenspolitische Arbeit ist, «wenn die Sicherheit vor allem von Care-Arbeit leistenden Frauen im Zentrum steht.»