Frauen fordern Teilhabe an der Übergangsjustiz: Nepal
Frauen waren vom zehnjährigen Konflikt in Nepal direkt betroffen, viele auch als Kämpferinnen. Von den Friedensverhandlungen waren sie jedoch faktisch ausgeschlossen.
Auch 18 Jahre nach Unterzeichnung des Friedensabkommens, kann in Nepal nicht von Frieden gesprochen werden. Der mangelnde politische Wille, patriarchalische Gesellschaftsnormen und politische Instabilität behindern die Umsetzung, mit generationenübergreifenden Folgen für die Konfliktbetroffenen. Sie wollen als Opfer der Kriegsgewalt anerkannt werden und fordern die Wahrheit. Vor allem wollen sie gehört werden. An einem FrauenFriedensTisch hörten unsere Mitarbeiterinnen Camille Bernheim und Karin Widmer zu.
Eine junge Frau steht vor der versammelten Gruppe und erzählt. Als ihre Schwester schwer krank wurde, brachten sie und ihr Bruder das Mädchen ins Spital. «Wo ist euer Vater?» wurden sie gefragt. Er wurde im Krieg getötet, erklärten sie. Daraufhin wurde die Behandlung verweigert. Wer übernimmt die Behandlungskosten, wenn der Vater tot ist?
Diese Geschichte ist eine von 24 persönlichen Erfahrungsberichten von Teilnehmer:innen am FrauenFriedensTisch (FFT), der im Februar in Nawalpur stattfand. Sie verdeutlichen, wie die vom Bürgerkrieg betroffenen Menschen «kontinuierlich an das, was im Krieg geschehen ist, erinnert werden», sagt Camille. Die oft tragischen Geschichten der Teilnehmer:innen hätten ihr vor Augen geführt, wie einschneidend die 10 Kriegsjahre für die Menschen waren – und bleiben. «Es ist, als ob der Krieg nie wirklich geendet hat.» Mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der nepalesischen Regierung und der damaligen maoistischen Partei nahm 2006 der Krieg ein Ende. Die Wunden bleiben.
Diskriminierung und Ausgrenzung
Am FFT sprachen manche zum ersten Mal über das, was sie im und seit dem Krieg erlebt haben. Andere hörten erstmals, wie Frauen im Krieg vergewaltigt, inhaftiert, gefoltert wurden. Die Geschichten zeigen, welche schwerwiegenden Erfahrungen die Betroffenen gemacht haben. Noch heute erleben sie Diskriminierung und Ausgrenzung von Behörden und Verwandten. Die Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, aber nicht als offizielle Kriegsopfer gelten und deshalb keine Entschädigung von der Regierung erhalten. Die Witwe, deren Haus von der Familie des getöteten Mannes beschlagnahmt wurde. Oder der Sohn, der erst von der Tötung seines Vaters erfuhr, als seine Mutter an einem anderen FFT teilnahm und bereit war, ihm davon zu erzählen. Manche wissen nicht, ob ihre Familienmitglieder noch leben. Sie gehören zu den geschätzten 1500 Personen, die heute noch als Verschwundene gelten. Die Erfahrungen werden von Familien aller Konfliktparteien geteilt.
Unsere Partnerorganisation Nagarik Aawaz versucht bewusst Betroffene aller Seiten an die FFT zu bringen. Wie bedeutungsvoll diese Arbeit ist, zeigt die Geschichte einer Frau: «Ich war immer voller Groll gegen die Maoist:innen. Deshalb war ich zuerst irritiert über eine Veranstaltungseinladung von Nagarik Aawaz mit Teilnehmenden von allen Konfliktparteien. Doch meine Sichtweise änderte sich. Nach der Veranstaltung rief ich meine Freundin an, zu der ich keinen Kontakt mehr hatte, weil ihr Vater ein Maoist war, und wir besuchten uns gegenseitig.»
Wunden des Krieges
Die Wunden des Krieges werden an die nächste Generation weitergereicht. Ein junger Mann erzählte, dass alles, was er am generationenübergreifenden Treffen erfahren habe, «historisch» gewesen sei. Denn in den Schulen gehört der Bürgerkrieg nicht zum Lehrstoff und viele Eltern sprechen nicht über ihre Erfahrungen, um ihre Kinder zu schützen. Ein anderer sagte, es sei ihm vorher nicht bewusst gewesen, was seine Mutter durchgemacht hat.
Wie wichtig diese Treffen sind, zeigt sich in den Aussagen. «Hier hatte ich zum ersten Mal einen sicheren Raum, um mit meiner Mutter zu weinen», sagte eine Frau. Ein Mann erzählte: «Als ich klein war, wollte ich die töten, die meinen Vater umgebracht hatten. Aber heute will ich mich nicht mehr rächen. Auch wenn unsere Erfahrungen hier unterschiedlich sind, ist der Schmerz, den wir teilen, ähnlich.» Wie er, betonten andere, dass mit Anlässen wie diesen, Nagarik Aawaz die Arbeit mache, welche die Regierung machen müsste.
Doch dazu fehlt der politische Wille. Seit 2008 gab es 13 Regierungswechsel. Die politische Instabilität birgt das Potenzial für weitere Gewaltausbrüche, sagt Karin, auch wenn die jetzige Regierung eine Koalition aus ehemaligen Kriegsgegnern ist. Nagarik Aawaz strebt einen positiven Frieden an, mit umfassender, sozialer Gerechtigkeit, und nicht nur die Abwesenheit von bewaffneten Konflikten. Um diesen Frieden zu erreichen, muss die strukturelle Gewalt in der tief patriarchalen nepalesischen Gesellschaft überwunden werden. Viele Institutionen würden den Krieg negieren, sagt Karin. Nichtregierungsorganisationen müssten in Anträgen statt «Frieden» «soziale Harmonie» schreiben. Nach Abschluss des Friedensabkommens waren 600 Friedensorganisationen registriert. Heute sind es noch 12.
Versöhnung und Veränderung
Der offizielle Versöhnungsprozess fand nur auf oberster institutioneller Ebene statt, nicht in den Gemeinschaften. Vier lokale Politiker:innen wurden zum zweiten Tag des FFT eingeladen, um diesen Prozess voranzutreiben. Einige Teilnehmer:innen stellten die Forderungen der Gruppe an sie: Anerkennung, Wahrheit und Rechenschaft. Eine Politikerin sagte danach, ihr sei nicht bewusst gewesen, dass Konfliktbetroffene in ihrer Gemeinde leben. Sie lud die Betroffenen ein, gemeinsam weiterzuarbeiten.
Mit Anlässen wie diesen setzt Nagarik Aawaz eine Veränderung in Gang, die in Familien und in Nachbarschaften an diskriminierenden Strukturen rüttelt. Zugehört und ernst genommen zu werden, baut auch das Selbstvertrauen der Frauen auf. Die junge Frau am Anfang dieses Beitrags konfrontierte den Spitalangestellten, der ihre Schwester nicht behandeln wollte. Dank ihrem gestärkten Selbstvertrauen erhielt die Schwester schliesslich die notwendige medizinische Behandlung.
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