2. Jahrestag des Ukraine-Krieges: Olena Zinenko: «Es ist unsere Aufgabe, Forderungen für das Leben zu stellen»

Im Februar 2022 hatten wir gerade ein Interview mit unserer Programmkoordinatorin Olena Zinenko in der Ukraine fertiggestellt. Zwei Tage später griff die russische Armee an. Kurz vor dem zweiten Jahrestag erinnert sich Olena an ihren Schockzustand in den ersten Tagen und Monaten des Krieges und an den Weg, den sie seither zurückgelegt hat. Sie erklärt auch, wie Gespräche über den Frieden in der Ukraine zu Spaltungen führen können und warum Frauen die treibenden Kräfte für eine zukunftsorientierte «Lebensagenda» sein müssen.

Wie kann man mit unseren unterschiedlichen Auffassungen über Frieden sprechen? Wir müssen über die Propaganda hinausschauen und über das Leben sprechen.

«Ich stand unter Schock. Und ich habe mich wie eine geschockte Frau verhalten. Ich hatte es ständig eilig, war ständig beschäftigt.» Zum Zeitpunkt des Angriffs am 24. Februar 2022 lebte sie mit ihrer Familie in Charkiw, wo sie als Dozentin an der Nationalen Universität V. N. Karazin und an der Staatlichen Akademie für Kultur arbeitete. Als Projektkoordinatorin für unsere ukrainische Partnerin KFR Public Alternative war sie seit 2021 für uns in der Ostukraine tätig. Der Krieg stellte ihr Leben auf den Kopf, wie auch das von Millionen von Ukrainer:innen.

Sie zog mit ihren Töchtern zunächst nach Krakau in Polen. Ihr Mann, ein Biologe, siedelte von Charkiw nach Lviv in der Westukraine über. Seit April 2022 lebt sie in Frankfurt (Oder), wo sie als Gastwissenschaftlerin am Institut für Europäische Studien der Europa-Universität Viadrina tätig ist. Nachdem sie so lange in Bewegung war, konnte sie nun in Frankfurt darüber nachdenken, «was sich in mir verändert hat». Erst dann begann sie, den Schock, den sie erlebt hatte, zu begreifen und zu verarbeiten.

«Ich hatte keine Ressourcen mehr in mir»

Der erste Jahrestag des Angriffs löste ein Gefühl tiefer Enttäuschung aus. Der Krieg war nicht, wie erhofft, zu Ende. «Ich hatte keine Ressourcen mehr in mir. Ich war leer, ausgebrannt.» Im zweiten Kriegsjahr wurde ihr klar, dass sie Hilfe brauchte. Als eine Kollegin sie fragte: «Geht es dir gut?», konnte sie endlich klar mit «Nein» antworten. Die Kollegin empfahl ihr eine Psychologin in der Südukraine. Olena fragte sich jedoch: «Wie kann ich psychologische Unterstützung brauchen? Mir sollte es doch gut gehen.» Die Psychologin lebt in einem Kriegsgebiet, sie nicht. Sie räumte Olenas Selbstzweifel aus: «Es ist deine Situation und es ist meine Situation.» Und so begann die Arbeit.

Die Psychologin half ihr, die Ressourcen zu finden, die sie brauchte, um aus dem blossen Reagieren zu kommen und stattdessen ihr Leben zu planen und in die Zukunft zu blicken. Heute sagt sie: «Ich habe es nicht eilig, aber ich bin überwältigt von der Arbeit.» Sie hält weiterhin Online-Vorlesungen für ihre Student:innen in Charkiw, recherchiert zur Desinformation in den sozialen Medien im laufenden Krieg und arbeitet weiter als Koordinatorin unseres Ukraine-Programms.

Aus Frauen Kraft schöpfen

Ende 2023 beschloss sie mit ihrer 12-jährigen Tochter Charkiw zu besuchen. Ihre Mutter lebt weiterhin dort, und ihre Tochter wollte ihre Freundinnen sehen. Sie kamen am 29. Dezember um 5 Uhr morgens mit dem Zug an. Während sie in der U-Bahn sassen, begann der Beschuss, der mehrere Tage andauern sollte. Eine Rakete schlug in der Nähe ein. Ihr Körper reagierte sofort: Sie zuckte zusammen und setzte sich hin. Die anderen Menschen in der U-Bahn taten das nicht. «Jeder konnte erkennen, dass ich keine Erfahrungen mit Beschuss habe.» Ihre Heimatstadt wurde in Dunkelheit gehüllt, während die Gegend, in der sie lebte, und die Strassen, durch die sie jeden Tag ging, bombardiert wurden. «Vorher bin ich weggelaufen und hatte Angst. Dieses Mal war ich wütend. Wie können sie es wagen, meiner Heimat so etwas anzutun? Das ist unlogisch. Es ist böse. Wirklich böse.»

Der Hauptgrund für ihre Entscheidung, am 1. Januar die Ukraine wieder zu verlassen, war der Schutz ihrer Tochter. Aber die Angst hat Olena auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nicht verlassen. «Ich muss hart arbeiten, um an einem Ort frei zu sein, an dem ich für meine Familie sein möchte», sagt sie. «Wie kann ich stark sein?»

Sie schöpft viel Kraft aus den Frauen, mit denen sie in der Ukraine in Kontakt bleibt. «Es ist sehr wichtig für mich, die Situation zu kennen, in der sie leben. Sie sind sehr, sehr mutig.» Sie ist sichtlich beeindruckt von dem Aktivismus dieser Frauen: Crowdsourcing für humanitäre Hilfe organisieren; Frauen mit Kindern, die an unsicheren Orten leben, unterstützen; Bildung und Gesundheitsfürsorge sicherstellen; dringend benötigte Dienstleistungen freiwillig anbieten; Kleinunternehmen gründen; und Kulturveranstaltungen organisieren. «Diese Frauen engagieren sich für das Leben.»

Verbindung zur Zukunft herstellen

Engagement für das Leben: Darauf sollte der Fokus in dieser Zeit des Krieges und der Zerstörung liegen und darauf konzentrieren sich Olenas Gedanken und Bemühungen. In ihren Schulungen für PR-Fachleute und Journalist:innen versucht sie, diese vom Fokus auf politische, kriegerische und «Sicherheits»-Narrative hin zu Friedens-Narrativen zu lenken, «um eine Verbindung zur Zukunft herzustellen».

Bei dieser Arbeit und bei der Arbeit, die sie für uns mit konfliktbetroffenen ukrainischen Frauen leistet, wurde jedoch deutlich, dass Wörter wie «Frieden» oder «Sieg» im Ukrainischen und Russischen unterschiedlich ausgelegt werden. In der Ukraine sei «Frieden» negativ behaftet, weil die Sowjetunion behauptete, einen schützenden «Friedensschirm» zu spannen, und zahllose sogenannte Friedensaktivitäten organisierte, unter anderem während des Afghanistankriegs in den 1980er Jahren, als Olena noch ein Schulmädchen war. Heute können Bezeichnung wie «Friedensaktivist:in» oder «Friedensförder:in» die Menschen in der Ukraine eher spalten als vereinen, sagt sie.

Über Frieden reden, wenn Bomben fallen

«Wie kann man mit unseren unterschiedlichen Auffassungen über Frieden sprechen? Wir müssen über die Propaganda hinausschauen und über das Leben sprechen. Aber es ist eine Herausforderung, über das Leben zu sprechen, wenn die Menschen weiter bombardiert werden.»

Sie ist nach wie vor davon überzeugt, dass Frauen der Schlüssel zur Verwirklichung einer «Lebensagenda» sind – Frauen in der Ukraine und Frauen, die ins Ausland gegangen sind. «Präsident Selenski spricht auf politischer Ebene über Verteidigung und Sicherheit. Das ist seine Arbeit. Frauen sind Expertinnen für das Leben – Bildung, Gesundheit, Kultur und so weiter – und beim Frieden geht es um das Leben. Es ist unsere Aufgabe, Forderungen für das Leben zu stellen.»

(Das Interview wurde zwischen dem 29. Januar und 7. Februar 2024 geführt.)

Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit in der Ukraine.

Das Bild links zeigt die Kerngruppe unseres Ukraine-Programms mit Olena Zinenko; unserer Geschäftsleiterin Deborah Schibler; unserer ehemalige Programmverantwortliche Annemarie Sancar; Olga Larina (von links nach rechts) und Olga Syniugina (sitzend) aus der Ukraine. Die zwei anderen Bilder sind von FrauenFriedensTischen, die wir mit den kriegsbetroffenen Frauen aus der Ukraine 2023 durchgeführt haben.